Dokumente und Gesammeltes
Massaker als Junge miterlebt wie Leichen aus den Waggons geworfen wurden
Von Wilfries Meisen 11.11.08, 00:00 uhr
Als kleiner Junge muss Manfred Reichart in Begleitung seiner Mutter und bewacht von US-Soldaten an den Leichen der ausgegrabenen KZ-Häftlinge vorbeiziehen. BILD: ARBEITSGEMEINSCHAFT KZ-TRANSPORTE
Er erzählte von Krieg und Tod - und auch von Nammering. Irgendwann wollte seine Tochter Stephanie es einmal genau wissen. „Ich geh mal ins Internet und gucke, was da steht“, sagt sie zum Vater. Sie gibt den Namen „Nammering“ einfach mal bei „Google“ ein. Ein paar Klicks, und schon ist auf einem Foto ein kleiner Junge zu sehen: Barfuß und in kurzen Hosen steht er vor einem halb verwesten Leichnam zwischen zwei Frauen und beobachtet von einem amerikanischen Soldaten. „Das war wie ein Schock“, sagt Reichart. „Ich kann mich an die Szene genau erinnern, weil ich vor dem Soldaten unheimliche Manschetten hatte.“
Auch den ärmellosen Pullunder des Kindes, seinen eigenen, und das Kleid der daneben stehenden Mutter erkennt er sofort wieder. Denn der Junge auf den Bild ist Manfred Reichart selber, als Siebenjähriger in Nammering, dort, wo in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges ein Transportzug mit KZ-Häftlingen vom Konzentrationslagern Buchenwald nach Dachau Station machte, weil die Strecke blockiert war. SS-Truppen verübten in Nammering (nördlich von Passau) das größte Kriegsverbrechen Niederbayerns.
Fast eine Woche lang stand der Todeszug auf dem örtlichen Bahnhof, mit 4000 Häftlingen, eingepfercht in 54 Viehwaggons. 794 Leichen blieben liegen , als der Zug dann endlich weiterfuhr. Zu Tode gefoltert, verhungert, verdurstet, erschossen oder bei lebendigem Leib verbrannt. Reichart, der aus Horrem stammt, hatte es als kleiner Junge genau an diesen Unglücksort verschlagen, mit seinen beiden Brüdern und der Mutter. Die Familie versuchte, durch eine wilde Flucht den letzten Kriegswirren zu entgehen, während der Vater noch als Soldat an der Front stand: „Dabei ist meine Mutter von einem Unglück in das andere reingerutscht“, erinnert sich Reichart. 1944 noch lebte die Familie in Duisburg. „Dort sind wir dreimal ausgebombt worden.
Also entschied meine Mutter, in das Sommerhaus meiner Patentante nach Schlesien zu ziehen, weil es ihr sicherer erschien.“ Als aber dort die Rote Armee immer näherrückte, schloss sich die Familie einem Flüchtlingstreck an. „Mit dem Zug fuhren wir nach Dresden.“ Ausgerechnet in den Tagen der verheerenden Bombenangriffe vom 13. bis zum 15. Februar 1945, die die Stadt in Schutt und Asche legten, kamen sie dort an. Um Haaresbreite den Bombardements entkommen ging es weiter über Prag bis nach Passau. Dort wurden die Flüchtlinge auf die Dörfer verteilt. „Wir kamen nach Eging in der Nähe von Nammering. Wir sind bei sehr netten Leuten untergekommen. Ich habe geglaubt, jetzt wird alles gut.“ Doch die Idylle trog: „Kurz bevor die Amerikaner auch nach Nammering vorrückten, kam der Zug mit den Häftlingen an“, erinnert sich Reichart. Es ist der 17. April 1945. „Man durfte nur bis auf eine gewisse Entfernung an ihn heran.
“ Der Zug sei schwer bewacht gewesen, auch wenn man als Kind durch die eine oder andere Absperrung schon mal durchschlüpfen konnte. „Ständig knallte es. Die Schüsse und Schreie waren bis ins Dorf zu hören.“ Was genau auf dem von SS-Wachen abgeriegelten Bahnhofsgelände geschah, bekommt der kleine Junge nicht wirklich mit. Der damalige Bahnbedienstete Heinrich Klössinger aber berichtet später als Zeuge in einem Kriegsverbrecherprozess über die Ereignisse: Der Transport war schon 14 Tage unterwegs, hatte aber nur für drei Tage Verpflegung dabei.
Die verhungernden Menschen wurden von SS-Truppen streng bewacht und rücksichtslos behandelt. „Die Häftlinge krochen vor Schwäche zur Wagentür, um Kartoffeln zu bekommen. Von den SS-Posten wurden sie mit Stöcken auf den Kopf geprügelt. Leichen wurden ohne Bekleidung aus den Waggons geworfen.“ Die fast 800 Toten begrub man in einem nahen Steinbruch. Reichart erinnert sich, dass der Zug irgendwann weiterfuhr, es muss der 23. April gewesen sein, dass die Amerikaner ins Dorf einrückten und schon bald dort wieder ein traditionelles Fest gefeiert wurde. „Vielleicht war es Christi Himmelfahrt.“
Die US-Truppen sollen im Dorf als „Befreier“ erwartet worden sein und hätten sich in den ersten Wochen als Besatzer „absolut korrekt“ verhalten, schildert ein Bewohner die ersten Nachkriegstage. „Dieses hat sich schlagartig geändert, als sie von den Vorgängen auf dem Bahnhofsgelände und schließlich von dem Massengrab erfuhren.“ Am 15. Mai erteilt der amerikanische Kommandant von Nammering der deutschen Bevölkerung in der Umgebung den Befehl, die von den SS-Truppen verscharrten Leichen wieder auszugraben und menschenwürdig zu beerdigen. „Bei Nichterscheinen erfolgt Todesstrafe.“
Die Amerikaner seien von Haustür zu Haustür gelaufen und hätten das ganze Dorf zusammengetrommelt, erzählt Reichart. Sofort mussten alle alles stehen und liegen lassen und sich in eine Reihe eingliedern. „Weil ich zu Hause keine Schuhe anhatte, lief ich barfuß mit.“ In einer „Riesenprozession“ zieht die Dorfbevölkerung von Eging nach Nammering zu dem Massengrab. Dort sind die halb verwesten Leichen der vor Wochen ermordeten KZ-Häftlinge mittlerweile von deutschen Kriegsgefangenen wieder ausgegraben und aufgereiht worden.
In ihrer Empörung über die grausige Entdeckung zwingen die Amerikaner Männer, Frauen und Kinder an den Leichen vorbeizugehen und Buße zu tun. „Die sagten immer „Beten, beten“ zu uns.“ Die Eindrücke haben sich in sein Gedächtnis gegraben: „Ich weiß es noch wie heute. Es war ein unheimlich heißer Tag. Meine Mutter hatte auf dem Weg Margeriten gepflückt. Ein Amerikaner forderte uns auf, den Blumenstrauß auf die Leichen zu legen. Er ist dann aber heruntergerollt.“ Dann muss die Bevölkerung die Leichen in rasch zusammengenagelten Särgen wieder beerdigen.
Zahlreiche amerikanische Fotografen halten alles mit ihren Kameras fest. So kommt auch das Foto zustande, das Manfred Reichart als kleinen Jungen vor den Leichen zeigt. Als Dokument deutscher Kriegsgräuel ist es im amerikanischen Nationalarchiv in Washington archiviert. Nach der Beerdigung dürfen Reichart und seine Mutter wieder nach Hause. „Wir sind von Nammering nach Eging entlang der Schienen gelaufen, so schnell wie noch nie, wir hatten den Tod im Nacken.“
Irgendwie hat Reichart es geschafft, die traumatischen Eindrücke zu verarbeiten. Schon im Herbst 45 kommt die Familie zurück nach Horrem. Erst mit der Zeit hätten sich die Erinnerungen „langsam etwas eingeebnet“. Reichart wird Fachingenieur im Bergbau und gründet eine Familie. Ob er mit seinen Erinnerungen an die Öffentlichkeit soll? Er ist zuerst unsicher, erzählt dann aber doch. Der vielen unschuldigen Toten wegen. „Ich habe schon zu meiner Tochter gesagt: Das darf niemals in Vergessenheit geraten.“
Pfarrer Bergmann ruft beim Gottesdienst zur Lebensmittelspende auf
Pfarrer Bergmann hat seine Verkündigungen bei den Gottesdiensten fast wörtlich aufgeschrieben.
Wortlaut der Verkündigung aus der Pfarrchronik Aicha v. Wald
(Nammering gehörte damals zur Pfarrei Aicha vorm Wald)
Aus dem "Wochen-Verkündbuch der Gottesdienstlichen Verrichtungen in der Pfarrkirche Aicha v. W. begonnen am 17. August 1941“ bis 12.5.1946
22.4.45
Heute ist der III. Sonntag nach Ostern, Schluß der österl. Beichtzeit
Heute ist Sammlung für die wandernde Kirche, für alle Seelsorgsfragen, die sich aus der gegenwärtigen Zeitlage, für die aus ihrer Heimat irgendwie Abgewanderten u. ihre seelsorgliche Betreuung und Erfassung ergeben; die Sammlung wird im bischöfl. Auftrag warm empfohlen. Heute nach dem Pfarrgottesdienste ist Christenlehre für alle Pflichtigen. Heute nachm. ½ 3 ist Betstunde in den schweren Anliegen u. Zeit. 23.4 Montag 7 Uhr Hl. Amt der Maria Sattler ....(es folgen fast drei Seiten Verkündigungen der Woche bis 29.4.45) .. nachm. ½ 3 Uhr Betstunde (Statt der Bittgänge) um eine gute Ernte u. um Frieden. In dieser Woche werden die Beichtzettel eingesammelt; bereithalten!
Dann möchte das Pfarramt folgendes bekanntgeben:
Die allgemein bekanntgewordenen Vorkommnisse in Nammering haben unter der Bevölkerung vielfach Unruhe verursacht. Ein Zug von Häftlingen, der von einem Lager in ein anderes überführt werden sollte, und der ursprünglich für die normaler Weise vorgesehene Dauer der Überführung mit genügend Lebensmitteln versehen war, ist durch die Zerstörung von Bahnen und Bahnhöfen ungewöhnlich lange aufgehalten u. auf Strecken gedrängt worden, die abseits des Bestimmungszieles lagen. Eine Verständigung des Zugkommandos mit den zuständigen Oberbehörden ist wegen Beschädigung von Telegraph und Telefon nicht in der notwendig schnellen Weise möglich, so daß eine Nachlieferung von Lebensmitteln nicht zur rechten Zeit eintreffen konnte.
Es sind Schritte unternommen worden, um den unliebsamen Zuständen abzuhelfen. Der Transport soll weitergeleitet werden, wenn nicht Unvorhergesehenes dazwischenkommt, heute abend schon. Bei Erreichung der Hauptstrecke soll auch wieder für Verpflegung gesorgt werden. Aber der Tag oder die paar Tage bis dahin sollen überbrückt werden.
Nach Rücksprache mit den zuständigen Stellen wende ich mich deshalb im Namen Christi an die Pfarrgemeinde: In jedem Haushalt ist trotz aller Knappheit eine Kleinigkeit zu erübrigen: einige Pfund Kartoffel, ein größeres Stück Brot, es muß ja kein ganzer Laib sein, ein paar Pfund Mehl u.s.w.
(Einfügung): Aber es sollen alle - mit Ausnahme der Flüchtlinge, die selber kaum das Notwendigste haben, mittun, denn bis über 2000 Menschen nur etwas haben, geht viel auf.
Die Sachen sollen bis heute Mittag dem Lagerkommando in Nammering, das bei Koller Wirt untergebracht ist, zur Verfügung gestellt werden. Wenn es auch Sträflinge sind, um die es sich handelt, und vielfach Ausländer, so sind wir doch nicht ihre Richter. Wenn sich die Leute in den Ortschaften und Dörfern zusammentun, bräuchten schließlich nicht alle einzeln nach Nammering gehen. Aber ich bitte euch herzlichst: Macht euch die Mühe, bis heute mittag, nach Nammering, beim Transportführer bei Koller Wirt abgeben.
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Heute ist der 4. S.n.O. .....