2020 Gedenkfeier zu 75 Jahren - geplant mit Ben Lesser - wegen Pandemie nur Kranzniederlegung
Der 91jährige polnische Jude hatte zusammen mit seiner Tochter Gail Lesser-Gerber gerne zugesagt zu kommen. Aber die geplante Gedenkfeier anlässlich des 75. Jahrestages der Ermordung von 794 KZ-Häftlingen am ehemaligen Bahnhofsgelände in Nammering muss leider abgesagt und auf nächstes Jahr verschoben werden.
Und sie versprachen jetzt auch, dass sie nächstes Jahr teilnehmen wollen.
Wer ist Ben Lesser?
Ben Lesser hat achtmal durch unsägliches Glück überlebt:
- Ghettos in Krakau und Bochnia
- Todeszug nach Auschwitz-Birkenau
- härteste Sklavenarbeit im Steinbruch Schotterwerk in Dörnhau
- 7 Wochen Todesmarsch von Dörnhau nach Buchenwald (fast 500 km)
- Todeszug ohne Essen 21 Tage lang von Buchenwald über Nammering nach Dachau.
Das folgende Interview hatte Saller für die Veranstaltung in Nammering als Video-Präsentation vorbereitet.
Sehr geehrter Herr Lesser, es ist uns eine ganz große Ehre und Freude, dass Sie mit Ihrer Tochter als einer der letzten Überlebenden dieses Todeszuges Buchenwald über Nammering nach Dachau zu uns kommen wollten.
Gleich eine Frage: Herr Lesser, Sie haben Ihren Töchtern lange Jahre nichts von ihren schrecklichen Erlebnissen erzählt. Seit wann und warum gehen Sie jetzt immer in die Schulen und zu den jungen Leuten um Vorträge zu halten?
Ungefähr 1996 erfuhr der Lehrer meines Enkels, dass ich ein Holocaust-Überlebender bin. Von da weg sagte ich mir: „Wenn du nicht willst, dass die Vergangenheit sich selbst wiederholt und es wieder einen anderen Holocaust auf der Welt gibt, dann musst du darüber reden. Denn die Nazis begannen nicht mit dem Töten, es begann mit dem Hass. Auf einmal wurden Liebe und Respekt ausgerottet durch Hass. Dann war es leicht zu töten. Ich habe mein Leben dem gewidmet den Hass zu beenden. Und das sich Erinnern tut auch mir weh und dann kann ich nicht mehr schlafen.“
Wir möchten Ihren unsäglichen Leidensweg einer jüdischen Familie durch die 6 Jahre Holocaust betrachten. Wie begann er in Krakau?
Meine Eltern und wir 5 Kinder wohnten in Krakau. Ich war 11 Jahre alt. 1939 kamen die Deutschen um 5 Uhr früh in unser Haus. Sie steckten alle Wertsachen in Säcke und rissen sogar die Ringe von den Fingern meiner Mutter und Schwester. Unsere Nachbarn waren auch Juden und hatten ein kleines Baby mit 8 Wochen. Weil es ständig laut schrie, nahm ein Nazi das Kind an den Beinen und schleuderte es mit dem Kopf gegen den Türstock, es war sofort tot.
Sie erzählen in Ihren Videos im Internet und in Ihrem Buch wie Sie aus Krakau wegziehen mussten.
Alle Juden wurden enteignet, mussten ihre Häuser verlassen. Sie wurden in das neu gebaute Ghetto in Krakau gesperrt. Weil dort zu wenig Platz war, durften wir aufs Land umsiedeln nach Niepolomice. Aus dem Ghetto von Krakau kamen später alle in die Vernichtungslager. Aber wir hatten Glück in Niepolomice zu überleben.
Dort in Niepolomice wurden Sie von einem Freund gewarnt, dass in dieser Nacht noch Schreckliches geschehen wird.
Ja, wir konnten in der Dunkelheit gerade noch rechtzeitig als Bauern verkleidet wegziehen. Auch dort wurden am nächsten Tag alle Juden in den Wald geführt und erschossen. Die Warnung durch den Freund hat uns das Leben gerettet.
Sie mussten dann in die ganz europaweit schon berüchtigte Stadt Bochnia ins Ghetto ziehen. Was war da?
In Bochnia hatten die Nazis alle jüdischen Kinder aus dem Schlaf geholt und mit Lastwagen weggefahren. Die hinterherlaufenden schreienden Eltern wurden mit Maschinengewehren getötet. Dort im Wald wurden die Kinder erschossen und sogar die nur verletzten, noch lebenden Kleinen in einer großen Grube mit Erde zugedeckt.
Ein Schrank hat Sie gerettet. Hier in Bochnia mussten ihre Eltern und Sie mit dem kleinen Bruder in einem einzigen leeren Raum mit zusammen 12 Personen leben. Nur ein Schrank war im Zimmer. Was war mit ihm?
Weil das mit den Kindern bekannt war, haben sich alle Leute im Ghetto Bunker und Verstecke in der Erde gebaut. In einer Nacht kam dann eine große Horde von Nazis und holte die Juden aus den Häusern und Verstecken. Diese wurden auf der Stelle erschossen und später auf dem Sadtplatz verbrannt.
Uns aber hatte der Schrank gerettet, weil hinter ihm ein Versteck im Freien war, das man von außen nicht sah. Wir 12 Personen mussten die ganze Nacht in der Kälte draußen ausharren, ohne einen Ton zu geben. Aber wir hatten wieder Glück zu überleben.
Anders war die wirklich abenteuerliche Flucht mit einem Kohlen-LKW. Der polnische Fahrer hatte unter den Kohlen einen doppelten Boden für 10 Flüchtlinge eingebaut. Von Bochnia weg brachte er euch Kinder glücklich an die Grenze von Ungarn. Aber eure Eltern kamen nicht nach Ungarn. Was war passiert?
Wir Kinder wurden an der Grenze von unseren Verwandten nach Munkacs im noch freien Ungarn geführt. Das war die Heimat unserer Mutter. Aber die Eltern kamen auch nach 2 Monaten nicht, es war was Schlimmes passiert. Ein Pole hatte gesehen, wie die Flüchtlinge in den LKW hineinkrochen und hat es der SS gemeldet. Er bekam dafür üblicherweise auch Geld. Die Deutschen holten alle heraus und erschossen auch den polnischen Fahrer. So kamen unsere Eltern ums Leben.
In Ungarn lebten Sie bei Ihrem Onkel in ungewohntem Frieden, aber nicht lange. Warum?
Im Frühjahr 1944 marschierten die Deutschen in Ungarn ein und es begann die Endlösung der 750 000 Juden. Wir wurden alle zu Viehwaggons geführt. Drei unmenschliche Tage folgten im Todeszug nach Auswitz-Birkenau. Dort passierte etwas bei der bekannten Selektion, was mich heute noch schmerzt. Mein kleiner Bruder und meine Schwester wurden mir einfach von der Hand gerissen. Ich sah sie nicht wieder.
Ihr Onkel, Ihr Cousin und Sie wurden von Dr. Mengele zu einem Arbeitskommando im Steinbruch eingeteilt. Eines Tages mussten Sie nach der Arbeit stundenlang in Reihen stehen bleiben. Es wurde immer gezählt und gezählt. Warum?
Es waren drei Häftlinge geflohen und daraus folgte wie immer eine bestialische
Bestrafung für alle. Der Kommandant verlangte, dass jeder 10. nach vorne tritt und 25 Stockschläge bekommen muss. Da merkte ich, dass es genau meinen Onkel treffen würde. Und ich tauschte schnell die Plätze mit ihm, denn in seinem Alter würde er es sicher nicht überstehen. Und sie nahmen mich als zehnten mit zu einem Holzbock.
Das erinnert uns an Pater Maximilian Kolbe, der sich auch für einen Familienvater geopfert hat.
Die Bestrafung an diesem Holzbock war extrem. Ich musste sehr nahe am Sägebock auf Zehenspitzen stehen, die Knie beugen und schließlich meinen Körper über den Sägebock wölben ohne jemals die Querstange zu berühren. Und laut bis 25 zählen. Die drei Häftlinge vor mir machten Fehler und wurden mit Kopfschuss getötet.
Und wie schafften Sie das?
Ich sagte selbst zu mir: „Ben wenn du überleben willst, musst du alles tun, was sie sagen. Oder es ist das Ende!“ Es waren höllische Schläge, das Blut rann über meine Waden. Aber ich zählte laut bis 25 und schaffte es. Wochenlang konnte ich nicht mehr auf dem Rücken liegen.
Sie haben also überlebt, niemand hatte damit gerechnet. Eine nächste Prüfung auf Leben oder Tod kam dann, als Sie schon den russischen Kanendonner vor den Toren von Auschwitz gehört haben. Was geschah am nächsten Morgen?
Durch die Lautsprecher wurde befohlen, dass alle Häftlinge sofort hinausmarschieren mussten, das Lager wurde evakuiert. Es war wirklich ein Todesmarsch – ohne Essen – drei oder vier Wochen lang – 700 km weit, wer nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen. Die Leichen säumten die Straßenränder. Ich schleppte mich und meinen Cousin bis Buchenwald durch.
Sie sagen in Ihren Videos im Internet, dass Sie in diesem KZ Buchenwald duschen durften, etwas zu essen und neue Bekleidung bekamen. Aber dieses Wohlergehen dauerte nur einen Tag lang. Warum?
Von Westen her waren die Amerikaner so nahe angerückt, dass auch dieses Lager evakuiert werden musste, damit kein Häftling in die Hände des Feindes fallen sollte. Wir wurden durch das Tor hinausgeführt zu einem langen Güterzug, der später auch Todeszug von Dachau genannt wurde. Zunächst waren wir froh, dass wir nicht mehr laufen mussten. Wir wurden zu 80 Mann abgezählt und mussten in einen geschlossenen Waggon hinaufklettern. Ich half meinem Cousin hinauf und wir gingen ans Ende des Waggons.
Und das war eigentlich keine gute Idee, weil plötzlich das Tor aufging und es wurden 80 Stück Brotlaibe hereingeworfen.
Ja, und die vorderen Männer schnappten sich drei oder mehr Brote, und wir da hinten hatten nichts. Ich musste also über die Köpfe der anderen Häftlinge hinweg mich nach vorne durchkämpfen. Dabei stach mich einer mit einem Taschenmesser unter das Kinn, so dass ich Blut im Mund spürte. Ich machte weiter und entriss ein Brot von einem, der 5 Brote hatte. Die Wunde verband ich mit einem Streifen Stoff aus meiner Kleidung. Es war wirklich ein Wunder, dass ich keine Infektion bekam.
Das Brot war die einzige Nahrung und Sie haben in den 3 langen Wochen in diesem Todeszug durch einen Trick überlebt.
Ich habe jeden Tag nur ein Stück in der Größe eines halben Eies vom Brot gebrochen, auch mein Cousin bekam nur eines. Wir mussten es heimlich essen, damit uns niemand umbringen würde es zu bekommen. Denn einige Gefangene wurden völlig verrückt und töteten diejenigen, die schwächer waren, es gab sogar Kannibalismus.
Sie haben gesagt, dass Sie von Nammering nichts wussten. Wir können uns das nur so vorstellen, dass Sie in einem geschlossenen Waggon waren und sogar ohne Kapo oder SS-Mann, die nicht einmal die Toten hinausschaffen ließen.
Die unvorstellbaren Bedingungen in den Viehwaggons verschlechterten sich nur weiter, bis fast jeder tot war. Wir schienen in einem Meer von Gestank des Todes zu schweben, umgeben von steifen und zerfallenden Leichen. Durch ein Wunder, so schwach ich auch war, gelang es mir entweder, stark genug auszusehen, um die anderen von uns fernzuhalten, oder Isaac und ich waren einfach zu geschwächt, um sich mit uns zu beschäftigen.
Dass Sie vom Todesmarsch von Auschwitz her so geschwächt waren, hat Ihnen vielleicht auch das Leben gerettet. Denn in Nammering mussten die Häftlinge die Toten aus den Waggons holen und zu den Leichenbergen am Ende des Zuges schleppen. Dazu waren Sie wirklich nicht mehr in der Lage.
Was war in Nammering alles geschehen? Die Häftlinge wurden wegen jeder Kleinigkeit erschlagen und ermordet. Hier ein Teil vom Augenzeugenbericht von Heinrich Klössinger, dem damaligen Bahnbediensteten:
„Ein Häftling wurde beim Austreten von einem Posten erschossen, ohne dass irgendein Anlass vorgelegen wäre. Am 19. April wurde bei Nacht ein ganzer Waggon von 45 Häftlingen erschossen. Am nächsten Morgen floss das Blut noch durch den Boden des Waggons. Die nur Verwundeten wurden mit Genickschuss getötet oder mit dem Gewehrkolben erschlagen. Tag und Nacht ging das Morden weiter, Geschrei und Gejammer war bei Tag und Nacht zu hören.“
Die Zahl der Toten belief sich schließlich auf ungefähr 800 Mann. Sie wurden in einer Sumpfwiese begraben und erst 3 Wochen, nachdem die Amerikaner da waren, mit bloßen Händen ausgegraben. Die ganze Bevölkerung musste an den Leichen vorbeigehen und sie dann in 5 Friedhöfen der Gegend bestatten.
Nach genau 21 Tagen kamen Sie endlich an einem Ort namens Dachau in diesem bekannten Todeszug an.
Als die Türen zu unseren Viehwaggons in Dachau endlich geöffnet wurden, wurde uns erneut brutal befohlen, in das Lager zu gehen. Nur eine Handvoll Skelette, darunter mein Cousin und ich, schafften es, durch die Leichen zu klettern und den Waggon zu verlassen, hinaus aus dieser Hölle. Aber eine weitere Hölle erwartete uns im Inneren des Lagers, ein Berg von Skeletten. Wir wurden angewiesen, uns auf den Boden zu legen. Wir waren die wandelnden Toten. Wir konnten kaum atmen, geschweige denn lächeln und winken, als wir unsere Befreier, die amerikanischen Soldaten wahrnehmen konnten.
Hier in Dachau ist dann Ihr Cousin Isaak in Ihren Armen gestorben. Sie hatten beide von einem amerikanischen Soldaten ein Dosenfleisch bekommen.
Natürlich meinten diese Soldaten es gut uns dieses Essen zu geben, aber die Nachwirkungen des Essens waren schrecklich. Und tödlich. Wir waren so unterernährt, dass wir, obwohl wir es besser wussten, einen großen Fehler gemacht haben: Wir haben etwas davon gegessen.
Zum großen Entsetzen wurde aber mein zerbrechlicher Cousin Isaac, der schon am Rande des Todes stand, bald gewaltsam krank. Ich hielt ich ihn fest und sagte ihm leise, er solle durchhalten, weil wir endlich frei wären. Aber es war vorbei. Am Morgen, als sie mir seinen Körper wegnahmen, versuchte ich mich verzweifelt an ihm festzuhalten, um mit ihm zu gehen.
Sie selber sind von da weg für 2 Monaten in ein Koma gefallen. Wo wurden Sie wieder gesund?
Ich weiß nur, dass ich mich, als ich wieder zu Bewusstsein kam, in einem bequemen Krankenhausbett in einem wunderschönen bayerischen Kloster namens St. Ottilien befand. Die Mönche hatten das Kloster für die medizinische Versorgung der Holocaust-Überlebenden freigegeben. Dank der medizinischen Versorgung und all dem Essen begann ich mich zu erholen. Und als ich zum ersten Mal seit vielen Jahren die Güte der Menschen erlebte, hatte ich ein wenig Hoffnung, dass das Leben lebenswert sein könnte. Und dass es sogar einen Gott geben könnte.
Die Texte stammen aus dem Buch von Ben Lesser „Living A Life That Matters: from Nazi Nightmare to American Dream“, 2012 (Englisch)
Internetseite von Ben Lesser: http://www.zachorfoundation.org
Internetseite von Nikolaus Saller: http://www.todeszugdachau.com
Diese Präsentation und eine noch geplante Broschüre „Ben Lesser. Sein Weg durch den Holocaust“ zu erhalten bei nikolaus.saller (at) web.de