Gleb Rahr stammte aus Russland und berichtete als Überlebender für uns
Der ehemalige KZ-Häftling russischer Abstammung, Gleb Rahr, (Häftlingsnummer R 64923) schrieb für die vorliegende Dokumentation seine Erinnerungen an den Transport auf.
Gleb Alexandrowitsch Rahr, (* 3. Oktober 1922 in Moskau; † 3. März 2006 in Freising) war ein exilrussischer Journalist und Kirchenhistoriker. 1924 wurde die Familie Rahr ausgewiesen. Er wuchs in Lettland auf und machte am deutschen Gymnasium das Abitur. Nach der Besetzung Lettlands durch die Rote Armee 1940 gelang der Familie die Umsiedlung ins Deutsche Reich.
Er sagt, dass er von der Gestapo gefangen wurde, weil er ein Mitglied einer Untergrundorganisation geworden ist, die sowohl gegen den Faschismus als auch gegen Kommunismus war. Im Juni 1944 verhafteten die National- sozialisten auch Gleb Rahr. Nach mehreren Verhören in der Gestapo- Leitstelle in Breslau kam er schließlich in sogenannte „Schutzhaft“ und durchlebte eine qualvolle Zeit in den Konzentrationslagern Groß-Rosen, Sachsenhausen, Schlieben, Buchenwald und Dachau.
Rahr war einer der Überlebenden des Gefangenentransports von Buchenwald nach Dachau. Am 29. April 1945 erlebte er die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau durch die Amerikaner.
Der letzte Transport von Gleb Rahr
Am 14. Juni 1944 weckte mich die Gestapo aus dem Schlaf. Durchsuchung: "Kommen Sie mit", Einzelzelle im Untersuchungsgefängnis des Polizeipräsidiums Breslau. Beim Verhör- dumme Beschuldigung: die Gruppe weißrussischer (anti-kommunistischer) Emig- ranten, der ich, ein Student der Universität Breslau, angehörte, sollte unter Ostarbeitern (zwangsver- schleppten Landsleuten aus den deutschbesetzten Teilen der UdSSR) "deutschfeindliche Propaganda" verbreitet haben.
So stimmte das auf keinen Fall. Wir hatten zunächst Hoffnungen gehegt, Hitlers Überfall würde uns die Befreiung von Stalin bringen. Noch 1942 wären Millionen bereit gewesen, auf deutscher Seite für ein freies Russland zu kämpfen. Doch kaum hatten sich die ersten Freiwilligen um General A.A. Wlassow geschart, und kaum hatte dieser in Smolensk aufgerufen, wurden die Freiwilligen nach Frankreich (Atlantik-Wall) und Wlassow selbst wieder in ein Kriegsgefangenenlager geschickt.
1944 war es offenbar zu spät. Eine russische Frei- willigenarmee konnte gar nicht mehr aufgestellt werden, die einstmalige Bereitschaft gegen Stalin, wenn es nicht anders ging, im Bunde mit Hitler zu ziehen, war geschwunden, das Vertrauen zu der Führung des Dritten Reiches war in sein Gegenteil umgeschlagen. Doch erst jetzt rangen sich Himmler und dann auch Hitler dazu durch, eine "Russische Befreiungsarmee" unter General Wlassow aufzustellen, zunächst zwei Divisionen.
Doch sie sollten ein Heerhaufen ohne Rückgrat werden, reines Kanonenfutter. Himmlers Logik bedeutete eine Verhaftungswelle unter den jüngeren russischen Emigranten. Antikommunistisch waren sie alle, aber russisch gesinnt, und bestimmt keine Anhänger der Ideologie, nach der Juden, Polen und die Russen selbst "Untermenschen" seien. Daher also der Gestapobesuch in der Morgendämmerung, und die zwecklosen Vernehmungen, bei denen die Gestapobeamten nicht recht wussten, was sie uns fragen und was sie uns vorwerfen sollten. Ganz freundlich wurden sie, als Ende September ein Bild vom Treffen Himmlers mit General A.A. Wlassow erschien. In der Zentrale in Berlin wussten sie wohl Bescheid. Die Breslauer Beamten meinten, dass wir nun sicher bald entlassen würden.
Dann, mitten in der Nacht: "Aufstehen! Transport nach Groß- Rosen!" - Fußmarsch zum Bahnhof. Gefängniswaggon aus Kaiser Wilhelms Zeiten. In Einzelzellen bis zu 5 bis 6 Häftlinge gepfercht. Auf gehts! -Groß-Rosen, Sachsenhausen, Schlieben bei Torgau. Da die Rüstungsbetriebe von Bomben zerstört wurden und somit einer nach dem anderen ausfiel, hatte die Gestapo Schwierigkeiten, uns einigermaßen sinnvoll einzusetzen.
In Schlieben waren wir dabei, eine Panzerfaust-Fabrik zu bauen, als der Führung, wohl in Berlin, ein Licht aufging, dass hier unerlaubterweise Arier (das waren wir immerhin!) und jüdische Häftlinge gemeinsam unter härtesten Bedingungen arbeiteten. "Nichtarier" durften bleiben, wir mussten nach Buchenwald und von dort ins Arbeitskommando Langensalza.
Holländische Zivilarbeiter warnten uns: "Macht keine Dummheiten!" Sabotage erübrige sich. Wir bauten Flügel und Fahrgestelle für den neuen Heinkel-Flieger, aber Motoren für die Maschine gab’s sowieso nicht mehr. Das Werk in Rostock war ausgebombt und wurde laufend neu mit Bomben belegt. - So verging der letzte Kriegswinter in einigermaßen warmen Räumen und mit der Versorgung durch die Luftwaffe, statt dem wesentlich knapperen SS-Menü.
l. April 1945. Ostersonntag. Klarer Himmel, Temperatur unter Null, Sonnenschein. In sehr weiter Ferne Geschützdonner. Im Werk sind alle Maschinen gestoppt. Am frühen Nachmittag plötzlich: Antreten, wir werden evakuiert. Fußmarsch nach 10 S 03 Buchenwald. Für die erste Nacht wurden wir auf einem Feld zu einem Haufen zusammen getrieben, umringt von SS und Hunden. Beim Morgenappell fehlen einige russische Häftlinge. Für die zweite Nacht werden wir daher in einer Dorfkirche eingepfercht. Am Morgen fehlen einige Polen. Man findet sie im Dachgestühl des Kirchturmes und erschießt sie. Gegen Abend sind wir in Buchenwald und werden wegen Überfüllung in leeren Pferdeställen untergebracht.
Zwei Tage später, 5. April: Appell, Abmarsch zur Verladung auf dem Bahnhof Weimar. Ziel des Transportes wird nicht bekannt gegeben. Gerüchteweise - Leipzig. Güterwaggons mit hohen Wänden, aber ohne Dächer. In der Mitte jedes Waggons, mit den Rücken zu den Türen, Stühle für jeweils zwei SS-Leute. Rechts und links werden je 30 bis 34 Häftlinge hineingebracht. Sie müssen auf dem Waggonboden sitzen. Wer ohne Erlaubnis aufsteht oder sich sonst in der Nacht bewegt, auf den werden die SS-Leute ohne weitere Warnung schießen. Vor der Abfahrt bekommt jeder Häftling ein Kommissbrot. Erfahrene Häftlinge schließen daraus, dass der Transport drei Tage dauern wird.
In der Morgendämmerung erreichen wir Leipzig. Stehen stundenlang auf dem Abstellgleis. Dann geht's weiter Richtung Süden. Die Irrfahrt beginnt. Scheinbar wird irgendwo entschieden, wohin der Transport gehen soll. An den Bahnsignalen erkennen wir, dass wir nicht mehr im "Altreich", sondern im Sudetengau sind. Zweimal durchfahren wir den Hauptbahnhof Pilsen. Gerücht: wir sollten nach Theresienstadt, doch ist dieses Lager nicht mehr fähig, uns aufzunehmen. Also - weiter auf eingleisigen Strecken Richtung Bayern. Der Transport bewegt sich langsam. Einige Stunden Fahrt, dann stunden- oder gar tagelanges Stehen auf freiem Feld. Dann dürfen wir manchmal hinaus, einzeln, wenn einer der zwei SS-Leute auch aus dem Waggon runtersteigt.
Das Kommissbrot ist längst verzehrt. In Pilsen haben uns Tschechen, die gerade zur Arbeit gingen, von Bahnbrücken aus ihre Butterbrote zugeworfen, aber nur einzelne von uns hatten das Glück, diese zu erhaschen. Zu essen bekamen wir seit Tagen nichts, aber wir hatten einen Blecheimer im Waggon, und manchmal durften wir bei einem Halt Wasser holen. Jeweils zwei Häftlinge holten es, eskortiert von einem der SS-Leute. Meist waren es ältere SS-Bewacher, frontuntauglich. Gerüchteweise ist der Transportführer früher Kommandoführer des Krematoriums in Auschwitz gewesen. Auch die SS bekommt nichts zu essen, wird zusehends nervöser und aggressiver.
Schon in einer der ersten Nächte schoss einer der zwei SS- Leute in unserem Waggon auf einen ganz jungen Russen, Wassja (Wassilij = Basilius). Der Junge war nicht ganz normal, redete mit sich selbst. In der Nacht stand er plötzlich auf, vielleicht im Schlaf. Eine Salve aus der Maschinenpistole trennte die obere Hälfte seines Schädels vom übrigen Körper, wie mit einer Säge abgetrennt.
Bei einem Halt wurden Häftlinge aus einem anderen Waggon erschossen, eine Kugel ging durch die Wand unseres Waggons und drang ein paar Zentimeter tief in den Rücken eines polnischen Häftlings. Wir wunderten uns später, dass die Wunde, nachdem wir die Kugel mit eigenen Kräften herausgezogen hatten, nicht eiterte.
Schüsse, ja immer MP-Garben oder Salven hörten wir immer öfter. Bei einem Zwischenhalt gab es eine wilde Schießerei und wir schlössen aus dem, was wir beobachten konnten, die Insassen eines ganzen Waggons müssen erschossen worden sein. Bei längeren Aufenthalten im freien Feld gab es Fluchtversuche. Die Flüchtlinge wurden eingeholt und im Laufschritt ans Ende des Zuges gejagt, dort erschossen und in die letzten Waggons geworfen, in denen die Leichen der erschossenen und gestorbenen Häftlinge gestapelt wurden.
An einer kleinen Bahnstation, deren Namen wir nicht sehen konnten, - heute weiß ich, dass es Nammering war, stand unser Transport mehrere Tage. Ich sah, wie vor unserem Waggon ein Häftling mit Erlaubnis eines SS-Mannes in einen Granattrichter stieg, um dort seine Notdurft zu erledigen. Kaum hatte er sich niedergehockt, schoss ihm der SS-Mann eine MP-Garbe in den Rücken.
Ganz plötzlich erschien der Transportführer selbst in unserem Waggon. Schäumend vor Wut schritt er auf den in der Waggonecke kauernden Russen Sergej zu und riss ihm einen etwa 10 cm langen Blechstreifen aus den Fingern. Sergej (er war mit mir in Langensalza, aber ich weiß von ihm nur, dass er Schuhmacher war) soll angeblich versucht haben, die Waggonwand anzusägen. Tatsächlich hätte er mit dem Stückchen weichen Blechs höchstens ein wenig Schmutz aus einer Fuge zwischen den Brettern der Waggonwand kratzen können.
Sergej wurde aus dem Waggon gezerrt. Er heulte laut auf. Dann eine Garbe in den Rücken und er war tot. Der Transportführer kam in Rage, stieg wieder in den Waggon und befahl dem Häftling, der neben Sergej auf dem Boden gesessen hatte, aufzustehen und aus dem Waggon zu steigen. Er hätte die Wache auf den "Fluchtversuch" Sergejs hinweisen müssen. Der Mann sprang auf und versuchte, sich auf der anderen Waggonseite zwischen die dort hockenden Häftlinge zu setzen. Seine Augen waren wie die eines Irren. Natürlich war sein Versuch zwecklos. Man zerrte ihn hinaus und erschoss den Bedauernswerten neben dem toten Sergej.
Der Transportführer kam abermals zu uns herauf und fragte, wer in unserem Waggon Dolmetscher sei. Als einziger, der in diesem Waggon Deutsch sprach, meldete ich mich, in der Meinung, er wolle uns allen etwas sagen. Statt dessen sagte er zu mir: "Komm, du bekommst auch eine Kugel!" Er wollte wohl sagen, auch ich hätte die Fluchtabsicht Sergejs melden müssen. Mit einer vollkommenen Ruhe, die ich mir heute gar nicht mehr erklären kann, setzte ich dem SS-Mann auseinander, dass ich ja kein offizieller Dolmetscher sei und ich nicht dafür verantwortlich gemacht werden könne, was in der anderen Ecke des Waggons vor sich gehe. Einer der SS-Leute flüsterte dem Transportleiter etwas zu, worauf beide aus dem Waggon stiegen. Die Fahrt ging weiter.
Das war also "mein" Nammering. Wohl am 25. April 1945. Als wir am nächsten Morgen anhielten, durften wir wieder einmal Wasser holen. Bei einer günstigen Gelegenheit sagte der SS-Mann, der mich am Vortag gerettet hatte, dass er dem Transportleiter zugeflüstert habe, dass ich Reichsdeutscher sei. Das war zwar nicht der Fall, und hätte der Transportführer nur auf meinen verschmutzten roten "Winkel" mit dem "R" (Russe!) geschaut, hätte mich nichts mehr gerettet. Aber das Wort "Reichsdeutscher" hatte seine Wirkung getan. Deutsche durfte die SS nicht ohne Befehl erschießen.
Dann drückte mir der SS-Mann einen Zettel in die Hand... mit seinem Namen und Adresse. Er bat mich, im Falle eines Falles bereit zu sein, zu bestätigen, dass er sich menschlich verhalten habe. Da er sich mit mir in Verbindung setzen wollte, nannte ich ihm das mainfränkische Dorf Unsieben. Da lebte ein Ärzte-Ehepaar aus dem Baltikum, das für mich, meine Eltern und Geschwister als Treffpunkt nach Kriegsende ausgemacht war... Am 14. Juni erreichte ich tatsächlich Unsieben und fand dort Eltern, Bruder und Schwester vor. Doch der SS-Mann meldete sich weder damals noch später bei mir.
Am 27. April kamen wir gegen Mittag in Dachau an. Wir warnten uns gegenseitig, nicht gleich viel zu essen. Wir waren ja seit 22 Tagen ohne Nahrung, wenn man vom Kommiss-Brot in den ersten zwei bis drei Tagen und einigen Kartoffeln in Nammering absieht. Doch als wir im Quarantäneblock (Baracke 27) einquartiert waren und große Kanister mit einer dicken Suppe vor uns dampften, gab es keinen Halt.
Als wir unter der am Tor angebrachten Schrift "Arbeit macht frei" hindurchmarsch ierten, wurden wir gezählt. Wir waren 1.300. Die Toten waren teilweise in Nammering verscharrt oder verbrannt, eine große Anzahl Leichen war in den letzten Waggons unseres Zuges gestapelt. Sie fanden später ein Gemeinschaftsgrab in Stadelheim auf dem Friedhof Perlacher Forst.
Am 28. und 29. April durften wir nicht aus den Baracken. Irgendwo wurde geschossen. Kugeln sausten in den Lüften über uns. Am 29. April gegen sechs Uhr abends lag ich im Halbbewusstsein auf den kahlen Brettern meines Bettgestells, als ich von einem Schrei aufgeweckt wurde. Der Schrei wuchs an: A-a-a-ah! Hinter dem Stacheldrahtzaun hatten sich die ersten Amerikaner gezeigt. Der sie zuerst gesehen hatte schrie. Dann schrieen Hunderte, Tausende, wir alle 32.000 die noch am Leben waren: Ah-a-a-ah!
Gleb Rahr
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