2015 am Mahnmal: Einführungsrede Nik Saller

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Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahrestages, Sonntag, den 19. April 2015 - Einführende Worte durch Nik Saller von der AG KZ-Transport 1945

 

„Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt,  wird blind für die Gegenwart.“     

(Richard von Weizsäcker)

 

Diese zwei Forderungen verpflichten uns für unser heutiges Tun: die Erinnerungen wach halten, aber auch die Augen öffnen für die gegenwärtigen Aufgaben. Als Sprecher der Arbeitsgemeinschaft KZ-Transport 1945  darf  ich Sie alle herzlich begrüßen. Mein Name ist Nikolaus Saller.

 

Vor 70 Jahren war hier am Bahnhof von Nammering ein Ort des  vielhundertfachen Sterbens von Menschen, die uns weder dem Namen nach und nicht einmal ihrer Volkszugehörigkeit oder Religion nach bekannt  sind.

 

Sie wurden gequält, geschlagen, auf brutale Weise wegen geringster Anlässe erschossen. Und dass so viele verhungert sind, das war auch Mord. So hat uns der Überlebende Dr. Jercy Fajer bei der Gedenkveranstaltung vor 10 Jahren gesagt:

 

„Ja, ja selbstverständlich das war Ende des Krieges, Hunger war überall. Die deutschen Soldaten haben gehungert, nur ich möchte sagen, die Häftlinge – das war Absicht, dass wir hungern, ja das war Absicht, dass wir hungern. – Und die SS-Männer haben in Tschechien geschossen gegen die Bevölkerung, wenn sie etwas zu essen brachten.“ Aber er sagte auch, dass es in Nammering anders war. Er habe persönlich profitiert von der 3 tägigen Lebensmittel-sammlung und nur deshalb überlebt.

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Wie verlief der KZ-Transport?

Wir wissen, dass 5.009 Häftlinge aus dem KZ Buchenwald am 7. April vor den herannahenden  amerikanischen Streitkräften evakuiert wurden. Sie mussten mit Güterwaggons über die Tschechoslowakei nach Dachau fahren. In Plattling aber war der Bahnhof bereits bombardiert, so kam der Zug – inzwischen waren 12 Tage ohne angemessene Verpflegung vergangen -  nach Nammering, wo er auf den 3 Anschlussgleisen des Steinbruchs ganze 5 Tage warten musste. Es waren in Nammering nur noch 54 Waggons, denn unterwegs waren schon 5 Waggons mit Toten abgehängt worden.

 

Danach fuhr der Transport über Passau, Pocking nach München und Dachau. Und dieser Elendszug kam nach 21 Tagen in Dachau an. Man weiß heute durch Francois Bertrand, dass von den ca. 5.000 Menschen nur 816 überlebt haben. Wenn wir vor der Vergangenheit nicht die Augen verschließen sollen, dann müssen wir auch die Berichte der Augenzeugen und der Überlebenden ertragen – und es ist eine Zumutung!

Klössinger

Was war im April 1945 hier geschehen?

Wir wissen es vor allem aus dem Augenzeugenbericht  des  Bahnvorstehers  von Nammering,  Heinrich Klössinger:  Er schreibt:

„Beim Einrollen des Zuges, bestehend aus 54 Waggons, hörte ich Hilferufe und Jammern in den Waggons, wusste jedoch nicht, was eigentlich los sei. Der Transportführer SS-Obersturmführer Merbach erklärte, er  habe schon 250 Tote in einem Waggon mitgebracht.

 

Ich verwies Merbach an den Ortsbauernführer in Renholding, damit er auch Kartoffeln für die wehrlosen Menschen bekomme. Diese wurden auch angefahren, gekocht und an die Häftlinge verteilt. Sie krochen vor Schwäche zur Wagentüre, um die Kartoffeln zu bekommen. Von den SS-Posten wurden sie mit Stöcken auf den Kopf geprügelt.

 

Ich konnte selbst beobachten, wie zwei Häftlinge, die die Toten aus dem Waggon holten, aber nicht schnell genug arbeiteten, sofort erschossen wurden; zwei andere kamen an ihre Stelle. Dauerndes Schießen war bei Tag zu hören und Hilferufe, Geschrei und Jammer hallte durch die dunkle Nacht.

 

Am 19. April wurde bei Nacht ein ganzer Waggon von 45 Häftlingen erschossen. Am nächsten Morgen  floss das Blut noch durch den Boden des Waggons. Die Leichen wurden am nächsten Tage  6 Uhr früh aus dem Waggon geworfen; die nur Verwundeten mit Genickschuss getötet oder mit dem Gewehrkolben erschlagen. Merbach sah diesen Mordtaten  zu, ohne besondere Anordnungen zu geben.“   

 

- Soweit Heinrich Klössingers Bericht.

 

Dieser Merbach wurde schließlich 1947 in Landsberg von den Amerikanern zum Tod verurteilt und hingerichtet.


 

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Gleb Rahr, ein russischer Überlebender schreibt:

„Ich sah, wie vor unserem Waggon ein Häftling mit Erlaubnis eines SS-Mannes in einen Granattrichter stieg, um dort seine Notdurft zu erledigen. Kaum hatte er sich niedergehockt, schoss ihm der SS-Mann eine MP-Garbe in den Rücken.

Ganz plötzlich erschien der Transportführer selbst in unserem Waggon. Schäumend vor Wut schritt er auf den in der Waggonecke kauernden Russen Sergej zu und riss ihm einen etwa 10 cm langen Blechstreifen aus den Fingern. Sergej soll angeblich versucht haben, die Waggonwand anzusägen.  Sergej wurde aus dem Waggon gezerrt. Er heulte laut auf. Dann eine Garbe in den Rücken und er war tot.

 

Der Transportführer kam in Rage, stieg wieder in den Waggon und befahl dem Häftling, der neben Sergej auf dem Boden gesessen hatte, aufzustehen. Er hätte die Wache auf den „Fluchtversuch" Sergejs hinweisen müssen. Man zerrte ihn hinaus und erschoss den Bedauernswerten neben dem toten Sergej."


Lazarro Levi, ein italienischer Überlebender schreibt:

„Wenn einer im Delirium jammerte, dann wurde er auf dem Fußboden ausgestreckt, den Kopf eingehüllt in eine Decke, und dann setzte sich einer auf diesen, bis der Unglückliche erstickt war.“

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Was geschah mit den vielen Toten?

In einem nahe gelegenen Steinbruch wurden nach Angaben der SS  270 Leichen verbrannt, was aber nicht schnell genug ging. Da schob man zwei Waggons voll mit den Getöteten an die steile Böschung der Bahnstrecke, rollte die Leichen hinunter und begrub sie in der Sumpfwiese.

Am 23. Und 24. April 1945 konnte endlich der Todeszug nach Passau weiterfahren und kam über Pocking am 27. April in Dachau an. Die dortigen Häftlinge halfen den halb toten Insassen aus dem Zug heraus und waren so erschüttert, dass ihnen selbst die Tränen kamen. Einer brüllte in die Waggons: „Wer noch lebt, soll den Arm heben.“ Das taten noch einige und wurden herausgeholt. Aber auch in Dachau ging das Sterben weiter. Man hat nur 816 Überlebende registriert und in den 39 Waggons lagen über 2.310 Tote.

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Wie ging es mit den Toten in der Sumpfwiese weiter?

Am 29. April kamen auch hier bei uns die Amerikaner als willkommene Befreier, aber mit ihrer Freundlichkeit war es vorbei, als nach 3 Wochen am 12. Mai (!) der Soldat Simmons Kleidungsstücke am Bahngleis fand und unten am Bach das Massengrab entdeckte.

Die Amerikaner waren wie ausgewechselt, ließen die Kriegsgefangenen aus Tittling mit bloßen Händen die halb verwesten Leichen ausgraben und befahlen der ganzen Bevölkerung am 16. Mai unter Androhung der Todesstrafe die Leichen auf der Totenwiese anzusehen. Jedes Opfer bekam dann einen Sarg und ein Kreuz und alle wurden in 5 Friedhöfen der Umgebung bestattet. In den 50er Jahren wurden sie exhumiert und die meisten nach Flossenbürg umgebettet. Nur in Eging besteht bis heute der KZ-Friedhof für 171 Menschen und in Fürstenstein liegen noch 39 begraben.

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Erinnern möchte ich zum Schluss auch an alle Überlebenden, die wir hier in Nammering persönlich kennenlernen durften.

Da war 1995 Wladimir Uwarow aus Moskau hier und hat in bewegender Weise eine Handvoll Erde aus Moskau hier niedergelegt.

 

Dann kam im Jahr 2001 eine Gruppe von 7 Überlebenden Franzosen, die sich in Frankreich regelmäßig trafen. Sie machten in einem Bus mit ihren Angehörigen eine Pilgerfahrt nach Aicha v. Wald aus Dankbarkeit dem Pfarrer Bergmann gegenüber.

 

Und dann hingen in all den Jahren regelmäßig Plastikblumen an diesem Mahnmal, im Friedhof Eging und am Grabstein in Fürstenstein. Wir konnten es uns nicht erklären von wem. Bis wir zufällig Herrn Dr. Fajer trafen. Er war in Polen bei der Untergrundarmee und hat gegen Hitler aber auch gegen Stalin gekämpft, kam nach Auschwitz und in sieben weitere KZ. Schließlich auch nach Buchenwald.

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Vor 10 Jahren war er hier bei unserer Gedenkveranstaltung und hat gesprochen.

Er lebt heute in Oberaudorf, ist 90 Jahre alt, aber zur Zeit bis zum 21. Mai in Polen.

 

So kann er nicht teilnehmen.

 

Aber stellvertretend für ihn lege ich hernach diese seine Plastikblumen nieder. Er war nämlich vor 3 Jahren wieder bei uns und hatte sie vorne am Birkenkreuz abgelegt

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Erinnern möchte ich auch an Hans Hübl, der vor 5 Jahren gestorben ist. Er hat die Hauptarbeit geleistet und lange Jahre für dieses Mahnmal gesorgt.

 

Wer all das heute wieder gehört hat, der fragt sich, wie konnte das nur geschehen?  Aber sofort muss jeder dieses „konnte“ berichtigen zu: Wie „kann“ das heute noch geschehen?  Beispiele von fast täglichem Morden und Quälen – in jeder Nachrichtensendung! Noch einmal Weizsäcker: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.“

 

Und das trifft mich auch persönlich: Manchmal erschrecke ich vor mir selbst, wie kann ich es ertragen, dass es mir eigentlich so gut geht in Freiheit und Sicherheit – täglich zu essen haben? Und anderswo  Menschen, die vor meinen Fernseh-Augen hungern und in bitterster Armut leben?  Wie können wir das weiterhin ertragen? Wir alle müssten einmal durch den Fernsehbildschirm hindurch in die Welt hinein sehen, wie sie wirklich ist.

 

Oder: Sind wir wirklich schon blind für die Gegenwart???